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Kapitel 401108 Himmelsgaben, Buch 1

Eine Lüge? – 8. November 1840

Schreibende: K. G. L. – Andreas und Anselm H.

1. Heute gab uns der liebevollste Vater durch Seinen Knecht Jakob Lorber nachfolgende Lehre, und zwar mit der angegebenen Überschrift.

2. Es wird euch sonderbar vorkommen, so ihr zufolge dieser Überschrift etwa denken möchtet, Ich sei imstande euch anzulügen. Allein es ist natürlich dem nicht so; sondern die Sache verhält sich ganz anders. Und es ist nicht alles Lüge, was als solches erscheint – wie auch nicht alles Wahrheit ist, was als solches erscheint. Dass die Sache sich aber so verhält, soll euch alsbald eine kleine Erzählung belehren.

3. Es erzählte jemand seinem Freund, dass er in einer Gegend dieses Landes einen ungeheuren Drachen gesehen habe und beschrieb sogar dessen Gestalt haarklein. Er machte dadurch seinem Freund die Sache so wahrscheinlich, dass dieser sich alsbald bewogen fand, selbst an den Ort hinzureisen, wo sein Freund den Drachen gesehen haben wollte.

4. Als nun der Freund in die benannte, genau beschriebene Gegend kam, da fand er auch nicht die leiseste Ähnlichkeit dieser Gegend mit der von seinem Freund beschriebenen, ja sogar der Name war falsch; und auf Frage wurde ihm berichtet, dass in diesem Land wohl keine Gegend unter diesem Namen und dieser Gestalt aufzufinden sein dürfte.

5. Und so kehrte denn der Freund wieder zurück und sprach zu dem anderen mit heftigen Worten: „Ei du loser, böser Freund, was habe ich dir getan, dass du mich so arg mit deiner Lüge bedient und mich dem Gelächter der Unsinnigen preisgegeben hast!?“ – Sein erzählender Freund aber behauptete dennoch, dass er ihm keine Lüge gesagt habe. „Denn,“ sagte er, „ich habe nun einmal das Ungetüm gesehen, wie ich dir beschrieben habe; und als ich mich bei den Menschen erkundigte, wie diese Gegend heiße, da sagten sie mir, dass sie so heiße, wie ich dir angegeben habe.“

6. Nun aber forderte den Erzähler sein Gegenfreund auf, ihn an den Ort zu führen, auf dem seine Lüge gewachsen war. Der Erzähler willigte ein und führte seinen Freund an einen Ort, der ungefähr eine leichte Ähnlichkeit mit dem vorbeschriebenen hatte. Allein als er, der Angelogene, die dortigen Menschen um den Namen dieser Gegend befragte, da hatte dieser auch nicht die leiseste Ähnlichkeit mit dem von dem erzählenden Freund angegebenen. Und von irgendeinem Drachen wusste niemand eine Silbe daselbst.

7. Nun, was meint ihr denn, nachdem ihr solche Erzählung vernommen habt – hat der Erzähler seinen Freund angelogen oder nicht? Ja, sage Ich, er hat ihn angelogen, und das weidlich – und wieder hat der Erzähler seinem Freund dennoch eine allerreinste Wahrheit gesagt.

8. Aber nun fragt sich, wie kann denn eine Sache zu gleicher Zeit Lüge und Wahrheit sein? Das bringt freilich ein natürlicher Menschenverstand so wenig überzeugend heraus, wie dass schwarz weiß und weiß schwarz ist. Jedoch nicht also ist es bei Mir! Denn es kann eine Sache, mit geistigen Augen betrachtet, recht gut schwarz und weiß zu gleicher Zeit und auf derselben Stelle sein. Und so wird sich auch zeigen, wie dieser vorbenannte, lügenhafte Erzähler dessen ungeachtet die Wahrheit geredet hat.

9. Dieser Mensch hatte nämlich an einem Tag, da er unter dem kühlenden Schatten eines Baumes einschlief, einen so lebhaften Traum, in welchem er das Erzählte so leiblich und lebhaft gesehen hat, dass er unmöglich umhin konnte, bei sich selbst anders zu gedenken, als er habe wirklich dieses alles also gesehen.

10. Denn obschon er wieder unter dem nämlichen Baum erwachte, unter welchem er sich einige Stunden vorher zur Ruhe gelegt hatte, so war aber doch sein Traum so beschaffen, dass es ihm vorkam, er sei alsbald unter dem Baum aufgewacht, habe dann die Stelle verlassen und sei zufolge eines weiteren Spazierganges in die vorbeschriebene Gegend gekommen. Und als er daselbst in seinem Traum alles früher Erwähnte gesehen und erfahren hatte, kehrte er alsbald zurück, kam gerade zum selben Baum wieder, legte sich wieder, schlief ermüdet auf eine kurze Zeit ein und erwachte dann wirklich unter demselben Baum, unter dessen Schatten er sich einige Stunden früher in Wirklichkeit wohlbehalten begeben hatte.

11. Nun seht, in der Natürlichkeit ist das von dem Träumer Erzählte zwar eine Lüge, da im ganzen Land keine Gegend jener Art und kein Drache ausfindig gemacht werden kann. Allein es ist gerade nicht nötig, dass, so irgendetwas in der Natur nicht vorgefunden wird, es deswegen nicht geistig bestehend da wäre.

12. Und so verhält es sich überhaupt mit einer jeden geistigen Anschauung! Nehmt nur einen Blinden und erzählt ihm von diesem und jenem Gegenstand, den ihr seht, dass er da ist! Ist für den Blinden die Erzählung etwa eine Lüge, da er den Gegenstand eurer Erzählung nicht selbst sehen kann? Und so können viele Dinge vorhanden und wahr sein, wenn sie auch nirgends aufgefunden werden – da neben der naturgemäßigen Welt, ja sogar in derselben eine noch bei weitem größere Geisterwelt besteht. Wer möchte z. B. wohl behaupten, dass die Hölle eine Lüge sei, da sie doch nur aus lauter Lüge besteht? Oder wer möchte behaupten, es gebe darum keinen Himmel, weil er dem Auge des Forschers nicht ersichtlich ist?

13. So ist demnach das Sein und Nichtsein und Doch-Sein keine Lüge! Denn ein materielles Sein ist kein geistiges Sein, wie das geistige kein materielles – und doch ist das materielle durch das geistige, wie auch wieder umgekehrt das geistige durch das materielle bedingt.

14. Ein Beispiel wird euch dieses hinreichend beleuchten! Betrachtet einen Apfel, wie er da noch hängt am Baum, so werdet ihr gewiss sagen, dass dieser Apfel auf diesem Baum gewachsen ist. Und wieder werdet ihr sagen müssen, dass dieser ganze Baum aus einem solchen Apfel gewachsen ist. Und so werdet ihr bald einen Apfel aus dem Baum und bald wieder einen Baum aus dem Apfel entstehen sehen.

15. Nun fragt euch selbst, was ist denn hier eigentlich die Frucht und welches ist das die Frucht Hervorbringende? Sagt ihr, der Apfel sei die Frucht, so sage Ich: „Was ist demnach aber der Baum, so er aus dem Apfel hervorwächst?!“ – Und sagt ihr: „Ja, so ist doch der Baum die Frucht!“ – da sage Ich aber: „Was ist demnach der Apfel, wenn er aus dem Baum zum Vorschein kommt?“

16. Seht, auch hier kann jede Behauptung an und für sich zu gleicher Zeit eine Lüge und eine Wahrheit sein. Denn der Apfel ist so gut Frucht wie der Baum – und eben auch so gut Hervorbringer wie der Baum.

17. Jedoch, wenn man sagt: „Ja, es kann doch nur eines wahr sein!“ – so sage Ich: „Es ist ganz richtig, dass die Wahrheit nur eine ist!“ Aber töricht ist es von Menschen, in der Beschränktheit ihrer Urteile zu behaupten und zu sagen: Dieses oder jenes sei „das Erste“ – während ihr doch aus diesem Beispiel leicht erseht, dass das eine so gut wie das andere „das Erste“ sein kann.

18. Denn es stünde zum Beispiel irgendein außerordentlicher Gelehrter auf und würde behaupten, Gott habe zuerst den Baum erschaffen; ein anderer aber würde hinzutreten und ihm sagen: „Wenn Gott zuerst den Baum erschaffen hat, warum hat er dann die Fähigkeit in den Apfel gelegt, dass, so dieser in die Erde gelegt wird, ein Baum aus ihm zum Vorschein kommt, der wieder ebensolche Früchte trägt, aus denen er selbst hervorgegangen ist? Somit ist ja doch ersichtlich, dass Gott nicht zuerst den Baum, sondern nur einen Apfel erschaffen hat!“ – Und wieder würde ihm auf diese Äußerung der erste Gelehrte einwenden: „Ich glaube, dass es der Ordnung gemäßer war, zuerst den Baum zu erschaffen und diesen mit der Reproduktionskraft zu versehen.“ – Seht, und so würden diese zwei Gelehrten sich in einem ewigen Kreis herumtreiben, ohne je ans Ziel zu gelangen. Und würde einer, der da zwei ineinandergreifende Uhrräder vor sich hätte, behaupten: „Dieser Zahn dieses Rades greift in die Zähne des anderen Rades!“ – und ein anderer würde ihm entgegnen: „Aber lieber Freund, bist du denn blind, dass du nicht siehst, dass die Zähne des anderen Rades nur in die Zähne dieses Rades eingreifen?“ – Welcher von diesen beiden hätte da wohl nun wieder recht?

19. Ich sage: Es hat ein jeder recht und redet die Wahrheit – und wieder: Es lügt einer so gut wie der andere. Der Anteil der Lüge besteht hier freilich bloß in der Einseitigkeit der Behauptung, wodurch die eine Wahrheit sich wider die andere auflehnt. Und in dem Grad, als sie die andere Wahrheit anficht, ist sie Lüge. An und für sich aber ist sie so gut wahr wie das von ihr Angefochtene.

20. Die eine Wahrheit aber ist diese: Es besteht und entsteht eines aus dem anderen – und eines ist für das andere da. Ich aber bin der ewige Urgrund alles Seins und habe alles so eingerichtet, dass das Naturmäßige entsteht und besteht aus dem Geistigen und das Geistige aber wieder, umgekehrt, im beständigen und unwandelbaren Kreislauf aus dem Naturmäßigen.

21. Daraus wird euch auch klar, wie die Geisterwelt beständig hineinragt in die naturmäßige und die naturmäßige wieder in die geistige. Denn so irgendein Geist frei wird, so liebt, denkt und handelt er in seiner ihm zugewiesenen Sphäre. Dieses Handeln und Wirken eines Geistes, da es nun einmal vor sich ging, kann aber unmöglich so spurlos vorübergehen, als wäre da gar keine Handlung und Wirkung vor sich gegangen. Es fragt sich demnach, wie wird denn aber die Handlung und Wirkung des freien Geistes ersichtlich?

22. Da sage Ich: Seht die Dinge an, wie sie sind, wie sie entstehen und bestehen, und ihr werdet euch dabei sagen müssen, dass jede diese Erscheinungen irgendeinen ausreichenden Grund der Entstehung haben muss – aber wo liegt dieser Grund? Gewiss nicht in der Materie, sondern in dem geistigen Wirken und Handeln, welches Wirken und Handeln ein inwendiges ist.

23. Wenn aber irgendein Baumeister ein Haus aufbaut, so hat er doch gewiss das Haus nicht des Hauses selbst wegen aufgebaut, sondern er hat mit dem Gebäude einen Zweck verfolgt, der seiner Absicht völlig entspreche. Da schon ein Baumeister solches tut und selbst als sterblicher Mensch seinem Werk eine ewige Dauer verschaffen möchte, um wie viel mehr wird ein freier, ewiger Geist seine Handlungen und Wirkungen so einrichten, dass sie seiner Liebe und seinem Wesen entsprechen!

24. Und so liegt ja wieder klar am Tage, dass die Materie selbst nur ein Mittel ist, aus dem ein geistiger Zweck in der Absicht des geistigen Erzeugers erstehen soll.

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